„Du darfst berennen“ Part 1

Mai 5

Die Tür quietscht, als sie aufgestoßen wird – langsam, fast respektvoll.

Der Flur liegt vor ihr wie eine Narbe: grau, leer, die Fenster milchig vom Staub der Jahre.

Und da steht er. An der Wand gelehnt, die Arme locker verschränkt. Kein Lächeln. Nur dieses Funkeln in den Augen.

„Hübscher Ort für einen Rückfall, findest du nicht?“

Seine Stimme hallt zwischen den kahlen Wänden – leise, aber sie trifft. Direkt ins Gedächtnis.

Du ziehst die Schultern zurück.

Gehst einen Schritt weiter in den Flur hinein.

„Das hier war ein Fehler.“

Deine Stimme klingt fest. Zu fest.

„Aber du wirst der sein, der’s bereut.“

Er hebt eine Braue – erlaubt sich ein kleines, spöttisches Nicken.

„Na dann… zeig mir, was du gelernt hast.“

Und du tust es.

Du übernimmst.

Du dirigierst.

Er lässt dich führen – lässt dich seine Position einnehmen.

Du wählst das Klassenzimmer. Du gibst die Regeln vor. Du fesselst ihn – nicht mit Seilen, sondern mit Worten, Blicken, Haltung.

Für einen Moment… glaubst du es wirklich.

Du hast ihn.

Du bist das Biest in diesem Käfig aus Kreide und Trauma.

Doch dann…

Ein leiser, zu leiser Lacher.

Ein kaum sichtbarer Zugwinkel seiner Lippen.

Und mit einem einzigen Schritt – einem einzigen Blick – verändert sich alles.

Er hebt langsam den Arm, obwohl du ihn an den Tisch gedrückt hast.

Die Geste ist klein.

Doch sie ist wie ein Schalter.

Dein Rücken berührt plötzlich kaltes Holz.

Du weißt nicht, wie – aber du liegst jetzt.

Sein Blick ist über dir.

Nicht wütend.

Nicht überrascht.

Nur… klar.

„Weißt du, warum du geglaubt hast, du führst?“

Seine Hand liegt locker an deiner Kehle – kein Druck. Nur Erinnerung.

„Weil ich es zugelassen habe.“

Du willst etwas sagen. Etwas schreien.

Aber das Echo deiner eigenen Angst in diesem Raum nimmt dir die Worte.

„Ich hab dich hierher gebracht, weil dieser Ort dich kennt. Und ich will, dass du endlich siehst, was du geworden bist – trotz all dem. Oder… wegen all dem.“

Er beugt sich tiefer, flüstert gegen deine Wange.

„Aber glaub niemals, dass du mich fesseln kannst…

…ohne zu vergessen, wer den Knoten gemacht hat.“